Aktiv werden gegen die negative Stimmung im Land

Jetzt ist das neue Jahr schon eine Woche alt. Noch sind nicht alle Neujahrsempfänge gehalten, noch nicht alle Rückblicke durch: aber wir sind schon drin, in dem Jahr, und mir scheint, die schlechten Nachrichten hören auch jetzt nicht auf, im Gegenteil. Entsprechend aufgeheizt scheint die Stimmung allerorten. Man fühlt sich hilflos, entsetzt, sprachlos.

Und dennoch glaube ich: jede und jeder von uns kann was tun, damit die Stimmung ins positive kippt. Wir können den schlechten Nachrichten die guten entgegensetzen, die es auch gibt, die aber untergehen im Geschrei. Das ist mein Vorsatz für das neue Jahr: auf das Gute schauen und die guten Nachrichten weiterverbreiten. Nicht nur im Netz, auch privat, überall, wo ich gerade bin. Die kleinen aus dem privaten Umfeld genauso wie die aus der weiten Welt. Man muss aufmerksam schauen, wenn man das Gute entdecken will: aber es geht. Und mein zweiter Vorsatz ist noch einfacher umzusetzen, man muss nur dran denken: Danke sagen, wenn jemand besonders freundlich ist, wenn einem durch ein Lächeln das Leben verschönt wird. Wenn z.B. die Arzthelferin im größten Chaos der überfüllten Praxis mit meckernden Patienten freundlich und ruhig bleibt – dann sage ich es ihr. Denn negative Kritik bekommt sie genug, das Gute wird viel zu selten gesagt. Solche Situationen gibt es täglich: positive Resonanz verschönert das Leben – und wessen Leben verschönert wird, dessen Stimmung ist besser, und er oder sie ist dann empfänglicher dafür, das Gute zu entdecken. Und das dritte ist noch leichter: lächelnd durch die Gegend gehen. Probiert es aus: Menschen, die man anlächelt, die man vielleicht lächelnd grüßt, z.B. wenn man sich im Zug zu ihnen setzt, die lächeln in der Regel zurück, manchmal überrascht, erstaunt, aber fast immer funktioniert es. Und wer lächelt, dessen Leben ist in diesem Augenblick schöner geworden, leichter: man merkt es an sich selber, wenn man lächelt, ändert sich die Stimmung.
Also lasst uns das tun: die Stimmung in der Gesellschaft ins positive kippen. Jeder und jede von uns kann dabei helfen.

Katastrophenjahr sagt man

Das neue wird nicht besser sagt man

So kann man es sehen

Man kann aber auch anders

Rückblicken auf das Gute

Seenotretter retten 118 Menschen am Heiligen Abend

Palästinenser verstecken Juden vor der Hamas

Russische Soldaten weigern sich und desertieren

Menschen helfen Menschen

In Kriegs- und Katastrophengebieten

Der Anteil an regenerativem Strom wächst

Rückblicken auf das Gute

Den jungen Mann im Zug, der spontan hilft trotz Sprachbarriere

Die junge Frau, die ihre Hilfe anbietet an der Rolltreppe

Den Briefträger, der nach dem langersehnten Brief sucht

Die Radfahrerin, die sich bedankt, wenn man zur Seite geht

Wir können die Krisen der Welt nicht lösen

Wir können aber die Sicht ändern

Die Erzählung des Guten verbreiten

Danke sagen, wo es gut war

Statt beschweren über das negative

Menschen anlächeln und positive Stimmung verbreiten

Liebe einsetzen gegen Hass und Hetze

Dann kann das neue Jahr besser werden

Wir haben es in der Hand.

Weihnachten 2023

Engel verkünden
den Frieden auf Erden

Zu viele Migranten in Deutschland

Zu viele Muslime

zu viele Ungelernte

zu viele Arme

zu viele Obdachlose

zu viele Drogenabhängige

zu viele faule und Arbeitsscheue

Sie stören

Sie kosten

Wir wollen sie nicht

Sie stören unseren Frieden

Engel verkünden
Den Frieden auf Erden

Bomben im Heiligen Land

Bomben in der Ukraine

In kurdischen Gegenden

Überall auf der Welt

Hungersnöte

Flüchtende

Seuchen

Menschen sterben

Engel verkünden
Den Frieden auf Erden

Es ist der Friede Gottes

Er gedeiht,

wo wir uns zurücknehmen

wo wir ihn verbreiten

wo wir helfen

wo wir uns Hass und Hetze entgegenstellen

wo wir den anderen in die Augen schauen.

Engel verkünden
Den Frieden auf Erden

Wenn wir ihn in die Welt tragen

Da, wo wir sind

Da, wo wir leben

Und darüber hinaus.

Zuversicht

Es sind wirklich Zeiten, in denen man jeden Mut verlieren könnte: der Klimawandel und die teilweise unverständlichen Reaktionen auch der Politiker auf eigentlich wissenschaftlich ziemlich deutlich und klar vorgegebene Notwendigkeiten. Der Krieg in der Ukraine und seit gestern der in Israel. Das Erstarken der Rechten in Deutschland. Die Wiederkehr des einst Unsagbaren. Konzentration auf Nebenschauplätze wie das Gendern. Die Behauptung, man dürfe nichts mehr sagen, wir lebten in einer Diktatur – laut ausgesprochen, ohne Konsequenzen (weil man es halt doch sagen darf). Politiker aus Volksparteien, die einfach mal Plattitüden raushauen, die der Überprüfung nicht standhalten: weil sie glauben, dass es sie wählbarer macht. Eine Kirche mit Bischöfen, die immer noch nicht verstanden haben, dass es notwendig wäre, den tausendfachen Missbrauch aufzuklären und Strukturen zu ändern, damit es in Zukunft anders läuft: Präventionsveranstaltungen allein sind sicher ein guter Schritt, aber es reicht eben nicht.

An allen Ecken brennt es – und ich bin mittendrin. Und oft denke ich: was kann ich denn tun? Wir sind in der Situation unserer Vorfahren vor 1933, las ich irgendwo, jetzt müssen wir uns an dem „warum habt ihr nichts gemacht“ messen lassen, was wir ihnen vorgeworfen haben. Ja, so geht es mir in vieler Hinsicht: ich stehe fassungslos vor dem, was um mich rum passiert, wie Politiker bestenfalls ungeschickt agieren, wie Menschen, die ich zu kennen glaubte, dem Populismus auf den Leim gehen – und dann einer Diskussion gegenüber abblocken, selbst wenn man beweist, dass alles anders ist, hätte es aber doch so sein können.

Was kann ich tun? Kann ich überhaupt etwas tun? Macht es irgendeinen Unterschied, ob ich schweige, rede und schreibe oder auf der einen oder anderen Demo zu finden bin? Hilft es der Ukraine, wenn wir jeden Freitag am Rathaus stehen und schweigen für den Frieden, solidarisch mit allen Kriegsopfern dieser Welt? Welche Antwort habe ich auf die Frage: was macht Ihr, wenn der Ukrainekrieg zu Ende ist? Steht Ihr weiter da? Was soll Euer Schweigen bringen?

Und dann sehe ich die Menschen, wie sie auf uns reagieren, eine Mutter, die ihrem Kind erklärt, „die stehen da, damit wir nicht vergessen, dass es immer noch Krieg gibt in der Ukraine“, Menschen, die uns beifällig zunicken, aber auch andere, die meinen, sie müssten sich die Zeit nehmen, uns zu beschimpfen, und denke: doch, es macht einen Unterschied: das Thema existiert einmal mehr in den Köpfen.

Und manchmal bekomme ich im Internet Rückmeldungen zu meinen Gedanken hin bis: „so habe ich das noch nie gesehen“ oder: „die Quelle kannte ich noch nicht, danke dafür“, von Menschen, die noch nicht eingerastet sind, die an Austausch interessiert sind, die wirklich selber denken wollen.

Und dann gibt es ja noch mein persönliches Umfeld. Ich kann dafür sorgen, dass es anderen Menschen besser geht und damit einen Schneeballeffekt auslösen – manchmal reicht bereits ein Lächeln, ein Zuhören, der Trost einer Trauerfeier.

Morgen mache ich mich auf den Weg nach Münster, Kirchenrecht zu studieren. Ich weiß nicht, ob das von Erfolg gekrönt sein wird, aber ich will es versuchen, um auch innerhalb der Kirche neue Möglichkeiten zu haben, das Leben für Menschen besser zu machen.

Zuversicht habe ich das hier überschrieben, und zuversichtlich will ich bleiben: mancher Weg findet sich erst beim Gehen, aber er findet sich. Und ich kann meinen Teil dazu beitragen, dass diese Welt ein freundlicherer Ort bleibt. Ob das reicht, weiß ich nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es einen Unterschied macht. Und deshalb gebe ich nicht auf, sondern gehe weiter, auf wohlvertrauten und auf neuen Wegen.  

Weltflüchtlingstag 2023

Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag.

Weltweit sind zurzeit ca. 110 Millionen Menschen auf der Flucht – mehr als je zuvor. Die Gründe sind vielfältig: Krieg und Vertreibung, lokale Konflikte und Gewalterfahrung, Diskriminierung und Verfolgung durch den Staat oder lokale Extremisten, aber auch Naturkatastrophen, Dürre, Überschwemmungen, Anstieg der Meere – alles, was dazu führt, dass Menschen dort, wo sie leben, keine Zukunft mehr haben. Die allermeisten von ihnen (ca. 58 %) bleiben im eigenen Land, viele drängen über die Grenze ins Nachbarland, in dem oft ebenfalls die Bedingungen schlecht sind, und versuchen so zu überleben und eine Zukunft zu bekommen. Darüber hinaus sind die drei größten Aufnahmeländer die Türkei mit 3,6 Millionen, der Iran mit 3,4 Millionen und Kolumbien mit 2,5 Millionen. 2,3 Millionen Menschen sind als Flüchtlinge und Vertriebene seit 1950 nach Deutschland gekommen, dazu gehören auch z.B. Vertriebene aus dem Osten (z.B. sogenannte „Russlanddeutsche), ca. 1 Million. Oder auch europäische Asylbewerber, z.B. aus dem Spanien Francos.
Die in den letzten Jahrzehnten Zugewanderten sind im Schnitt 40 Jahre alt, 41 % sind Frauen. (Quellen: Statistisches Bundesamt und UNO-Flüchtlingshilfe.)
So weit die trockenen Zahlen.

Viele Menschen haben Angst vor Geflüchteten, Vorurteile „alles junge aggressive Männer mit Messern, die es auf unsere Frauen abgesehen haben“ grassieren nicht nur im Internet. Ich fahre mehrmals die Woche mit dem Zug nach Bochum, im Zug herrscht fröhliches Sprachenwirrwar und auch an der Ruhruni gibt es viele Studenten und Studentinnen mit erkennbarem Migrationshintergrund – da gehen z.B. fröhliche Frauen mit Kopftuch in der juristischen Fakultät ein und aus, und auch sonst prägt das Nationengemisch des Ruhrpotts auch den Unicampus. Ich habe da noch nie negative Erlebnisse gehabt, im Gegenteil.

Ein Erlebnis aus der letzten Woche möchte ich schildern: es war in der RB 35 nach Duisburg. Ich steige im Forsthaus ein, in Krefeld HBF steigen dann viele aus und neu wieder zu. Drei junge Männer stiegen ein, einer setze sich mit einem freundlichen Salem Aleikum zu mir, zwei andere in den benachbarten Vierer. Alle drei sahen so aus, als könnten sie Migrationshintergrund haben: sicher weiß man das ja nie. A, der bei mir saß, grüßte auch alle anderen Einsteigenden mit Salem Aleikum – was ihm von einem älteren, durchaus seriös aussehenden Herrn ein „ich komm Dir gleich Salem Aleikum“ eintrug.

Dann fing er an, einen RAP zu singen: „10 Jahre ich bin hier, immer noch keine Papier, Leute, was soll ich machen, das Problem liegt nicht bei mir“ (ich habe inzwischen recherchiert: der Künstler heißt Malek Samo). Und der vielleicht etwas Ältere der beiden aus dem Nachbarvierer (B) stimmte ein. Als sie fertig waren, meinten sie „so ist das“ und lächelten mich an. Offensichtlich aufgefordert, ins Gespräch zu kommen, fragte ich nach: nein, beide seien sie inzwischen Deutsche, auch wenn es schwierig gewesen sei. A ist geflohen, als er im Irak rekrutiert wurde und auf Klassenkameraden, die von anderer Seite rekrutiert wurden, schießen sollte (er hat mir Bilder auf dem Handy gezeigt von sich als Soldat), B ist als Kind rumänischer Einwanderer in Deutschland geboren. Der dritte hatte auch einen rumänischen Hintergrund, da er sich am Gespräch aber nicht beteiligte, sondern die ganze Zeit nur lächelte, habe ich nichts Näheres erfahren.  Beide sprachen hervorragendes Deutsch und alle drei bereiteten sich gerade auf das Abitur vor, so erzählten sie mir.

Dann kam die unweigerliche Frage: „Und was machen Sie?“. Meine Antwort „ich studiere katholische Theologie“ brachte Staunen und Bewunderung hervor und das Bekenntnis, das A Muslim sei und die beiden anderen Evangelisch. Und dann kam etwas, was ich nicht erwartet hatte: ein tiefschürfendes Gespräch über den einen Gott, der die Liebe ist, über Extremismus und Fundamentalismus. Ich habe sehr bedauert, dass der Zug diesmal keine außerplanmäßige Halte hatte. Alle drei fühlen sich in Deutschland übrigens grundsätzlich wohl, solange sie nicht feindlich angegangen werden: solchen Situationen versuchen sie aus dem Weg zu gehen. Blöde Sprüche wie der des älteren Herrn verletzen sie zwar, sind für sie aber nicht typisch für Deutschland. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen.

Warum ich das hier niederschreibe? Weil ich wieder mal erfahren habe, dass vieles nicht so ist, wie es scheint. Diese drei jungen Männer bereichern unser Land. Wir sollten positiv auf die Menschen zugehen. Wir sollten solche Begegnungen nutzen, ins Gespräch zu kommen.

Jahrestag

Seit ungefähr einem Jahr stehen wir mit einer Handvoll Menschen jeden Freitag um 18 Uhr auf dem Rathausplatz unserer Kleinstadt, um eine halbe Stunde zu schweigen. Wir schweigen ganz bewusst: wir wollen nicht einstimmen in den großen Chor derer, die genau wissen, oder zumindest zu wissen glauben, was zu tun ist. Wir wollen uns nicht einreihen in den Streit um die Frage, ob alle Grünen Kriegstreiber sind oder alle Pazifisten Putinfreunde. Wir schweigen für den Frieden in der Welt – die Schweigeminute ist ein uraltes Ritual der Solidarität. Und genau darum geht es uns: wir wollen uns solidarisch zeigen mit den Opfern dieses Krieges und aller Kriege auf der Welt. Wir wollen drauf aufmerksam machen, dass er immer noch wütet, dieser Krieg. Wir wollen verhindern, dass der Krieg als Dauerzustand irgendwann „normal“ wird und in den Hintergrund gedrängt, wie so viele Kriege dieser Welt.

Wir stimmen darin überein, dass Kriege nicht sein sollen in dieser Welt und dass Wege gefunden werden müssen, diesen Krieg und alle anderen zu beenden. Wir stimmen auch darin überein, dass man an der Seite der Opfer stehen muss, die in dem Krieg in der Ukraine ganz klar auf der Seite der Ukrainer zu finden sind. Und mit diesen Überzeugungen stehen wir da, jeden Freitag, solidarisch im Schulterschluss mit den Opfern der Kriege dieser Welt.

Manchmal werden wir angesprochen und am Rande des Schweigens gibt es – in der Regel vorher oder nachher – durchaus interessante Gespräche. Wir bekommen viel Zuspruch, aber auch Ablehnung, die meist den Tenor hat: Schweigen ist einfach, bewirkt aber nichts. Wer mich kennt weiß: diese halbe Stunde ist für mich eine echte Zumutung. Manchmal hören wir auch: „niemand hat was von Eurer Solidarität“. Auch das sehe ich anders: ab und an kommen Ukrainerinnen und Ukrainer vorbei und freuen sich und finden gut, dass wir solidarisch sind und an den Krieg erinnern.

Dennoch mache ich mir natürlich meine Gedanken zu den Ereignissen. Ich, von Haus Pazifistin, die immer voller Überzeugung „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“ auf Rad und Auto kleben hatte, finde die Forderungen der Ukraine, noch mehr, auch geächtete Waffen wie z.B. Phosphorbomben zu bekommen unerträglich – aber genauso unerträglich finde ich den Ruf der selbsternannten Friedensschützer, die nach einem sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen rufen, ohne eine Idee, wie man die Ukraine dann schützen kann.

Natürlich werden Kriege nicht durch Waffen beendet, sondern durch Verhandlungen. Und verhandeln ist immer besser als schießen. Zum Verhandeln aber gehören immer zwei. Zwei, die bereit sind, zu verhandeln, also miteinander zu reden und um Lösungen zu ringen. Heute (23.2.) vor einem Jahr wurde noch verhandelt. Ich habe die Bilder noch im Kopf: lange Tische, Putin auf der einen Seite und die zu Verhandlungen angereisten Personen meterweit entfernt. Und ungeachtet all dessen, was Putin dort gesagt, gefordert, versprochen hat, ist er von diesem Tisch aufgestanden und in die Ukraine einmarschiert, in dem Glauben, es wäre in ein paar Tagen vorbei. Womit er, aber wahrscheinlich auch sonst niemand gerechnet hat: es war nicht in ein paar Tagen vorbei. Womit er auch nicht gerechnet hat: seine Soldaten wurden nicht mit offenen Armen empfangen und als Befreier gehandelt: im Gegenteil. Selbst große Teile der russischstämmigen Bevölkerung stellten sich ihnen entgegen oder flohen. Ich hatte letzten Sommer Gelegenheit, mit einigen zu sprechen: sie wollen diesen Krieg nicht, sie wollen auch nicht in Russland leben.

Und dann kam das Ringen um die Frage: darf man Waffen liefern (und gerungen wird immer noch, das ist auch gut so)? Ich denke, man darf nicht nur, man muss sogar. Man muss den Opfern helfen, sich zu wehren, sie haben ein Recht darauf. In den Diskussionen wird oft gesagt: wir müssen uns schützen, unsere Wirtschaft, unsere Unversehrtheit – müssen wir das? Geht das überhaupt? Was bleibt denn unversehrt, wenn wir zuschauen, wie ein Land brutal unterworfen wird, ohne zu helfen? Was bleibt denn unversehrt, wenn wir dem Krieg den Rücken zuwenden und zur Tagesordnung übergehen oder gar die Ukraine auf dem Silbertablet anbieten? Niemand bleibt unversehrt, im Gegenteil. Im zweiten Weltkrieg haben die Deutschen in der Ukraine schwer gewütet: erwächst nicht schon allein daraus eine Verantwortung zu helfen? Mit Hilfsgütern, mit der Aufnahme von Geflüchteten, aber eben auch mit Waffen?

Den ganzen Diskussionen um das Ende der Waffenlieferungen und der Forderung nach sofortigen Verhandlungen fehlt meiner Meinung nach das Wichtigste, nämlich die Frage nach den Folgen und nach dem Wie. Niemand ist gegen Verhandlungen. Niemand liefert leichtfertig Waffen in ein Kriegsgebiet, eigentlich ein no go, der Meinung bin ich ja auch. Aber wenn der Westen aufhört, die Ukraine zu unterstützen, dann bekommt Putin freien Raum. Dann wird er die Ukraine annektieren. Und wie er mit Menschen umgeht, die nicht seiner Meinung sind, was die Ukrainerinnen und Ukrainer dann zu erwarten haben, wenn sie sich nicht fügen, dass kann man überall beobachten, wo Putin seine Finger im Spiel hat. Opposition darf es nicht geben, Freiheitsstreben wird als staatsschädigend angesehen, wer die Wahrheit sagt, kommt in den Knast oder begeht Selbstmord: ist es dass, was wir für die Ukraine wollen, damit wir unsere Ruhe haben?

Und dann? Wie soll es dann weitergehen? Putin wird sich mit der Ukraine nicht zufriedengeben. Auch das zeigt die jüngere Vergangenheit. Er will den Einfluss Russlands zur früheren Größe erheben. Und bei ihm heißt Einfluss: alles beherrschen. Er wird also weitermachen, weil er gelernt hat, dass er, wenn er irgendwo einmarschiert, auf Dauer bekommt was er will. Denn er macht ja immer wieder deutlich, dass er nicht bereit ist, in eine Richtung zu verhandeln, bei der eine freie Ukraine überbliebe. Die Frage ist also erstens: opfern wir die Ukraine unserer Sicherheit? Und wird uns das Gelingen? Ich glaube nicht. Und deshalb darf Putin nicht gewinnen, deshalb darf man ihm die Ukraine so lange nicht überlassen, wie die Ukrainer selbst es nicht wollen.

Ich bin für Verhandlungen. Und für Frieden. Und eigentlich grundsätzlich gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Ich bin zerrissen, wie viele. Es gibt nicht nur dafür und dagegen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß und niemand wird unbeschadet aus der Situation wieder rauskommen. Deshalb schreibe ich keine offenen Briefe an den Bundeskanzler. Weil ich nichts anzubieten habe. Außer einem „ich will das nicht“. Aber ich bin überzeugt: er will das auch nicht, und die Grünen auch nicht. Niemand will das. Es ist eine Zwickmühle. Die uns alle verändert. Aber die Hoffnung bleibt: dass es eine Veränderung zum Positiven ist, eine Veränderung in Richtung Menschlichkeit. Trotz der grausamen Opfer, die dieser Krieg fordert. Oder gerade deswegen. Ich hoffe, dass wir lernen, miteinander zu sprechen und aufeinander zu hören. Und zuzugeben, wenn wir keine Lösung haben, anstatt von anderen zu verlangen, sofort etwas zu tun, dessen Folgen wir nicht abschätzen können oder die andere ausbaden müssten.

Und deshalb werde ich auch morgen Abend wieder auf dem Rathausplatz stehen und schweigen. Solidarität zeigen und erinnern, was da geschieht, mitten in Europa. Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen.

Am Meer

Ich stehe am Meer
Die Wellen schlagen
unermüdlich an den Strand
Seit ewigen Zeiten
Solange der Strand existiert
Sie werden es weiter tun

Ich schaue in unendliche Weite
Gewaltig, gefährlich, berauschend, schön
Das Jahr ist noch jung
Wie wird es sein?
Gewaltig, gefährlich, berauschend, schön?

Leid und Elend
verschwinden nicht
man kann eh nix tun
der Pessimist sieht nur das Zerstörerische
und legt die Hände in den Schoß
versucht sich zu verstecken
zu entrinnen
rennt weg
sieht nicht die Momente
des Glücks und der Schönheit

Mit dem Blick auf die Wellen,
das jahrtausendealte ewige Ritual
beschließe ich
obwohl es eigentlich keinen Anlass gibt
nicht pessimistisch zu sein

Wie die Maus Frederik
will ich dieses Jahr sammeln:
Kleine Bilder der Freude
Kleine Momente des Glücks
Kleine Momente der Menschlichkeit

Von ihnen will ich mich nähren
mich und die anderen
damit wir stark werden
in die Hand nehmen
verändern
die Hoffnung nicht verlieren

Ich stehe am Meer
Die Wellen schlagen
unermüdlich an den Strand
Seit ewigen Zeiten
Solange der Strand existiert
Sie werden es weiter tun

Wenn man genau hinschaut
sieht man es glitzern
Das Meer
Und das Leben.
























Jahreswende 2022/23

Wieder geht ein Jahr vorbei. Wir haben es aufgegeben, so Phrasen wie „es kann nur besser werden“ von uns zu geben: Corona, Kriege, Hungersnöte und Klimakrise belehren uns eines Besseren: es geht immer noch schlechter.

Und wir blicken zurück und sehen nur Katastrophen, persönliche möglicherweise, aber auch weltweit. Ich könnte mich jetzt diesem Reigen anschließen: es flösse mir leicht aus der Feder.

Aber ist das die richtige Sichtweise? Führt das nicht eher zu Resignation und zu einem „ich kann doch eh nix ändern“?

„Wieso stellt Ihr Euch jeden Freitag auf den Rathausplatz und schweigt für den Frieden? Schweigen ist einfach und bringt genau nix, tut doch lieber was“ – so oder so ähnlich hören wir durchaus häufiger. Ja, man kann es so sehen. Wir sehen es anders: in unserer Hilflosigkeit ist es eine Möglichkeit, sich solidarisch zu zeigen. Es ist ein Weg, darauf hinzuweisen, dass es diesen (und andere) Krieg gibt und dass es uns durchaus etwas angeht. Inzwischen sind es neben uns beiden Organisatoren weitere 5 Menschen äußerst regelmäßig, andere kommen sporadisch dazu. Viele Menschen, die uns sehen, finden gut, was wir tun: sogar die Jugendlichen, die sich dort auf der Bank treffen, haben immer einen Daumen hoch für uns. Das heißt jetzt ja nicht, dass wir uns im Schweigen verlieren. Das heißt aber, dass es Möglichkeiten gibt, Hoffnung und Solidarität zu verkünden, auch dann, wenn alles aussichtslos erscheint.

Wenn man auf das vergangene Jahr blickt, dann sieht man neben dem Schrecken des Krieges ungeheuer viele Menschen, die sich engagieren. Die den Geflüchteten helfen. Die ins Kriegsgebiet fahren, um Hilfe zu bringen. Bereits am Samstag nach Kriegsausbruch fuhr der erste Transport von action medeor Richtung Ukraine – während einer Friedensdemo vor dem Rathaus in Tönisvorst, wo die Organisation ihren Sitz hatte und an der ihr Präsident teilnahm. Eine Welle von Hilfsbereitschaft wurde freigesetzt, das ist die gute Nachricht neben all den Schlechten.

Der Hunger in der Welt nimmt wieder zu. Das ist eine erschreckende Nachricht. Aber im Dezember hat WDR 2 mit seiner Glashausaktion auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt in 5 Tagen über 7 Millionen Euro an Spenden gesammelt, um den Hunger der Welt insbesondere der Kinder zu lindern: viele Menschen haben Aktionen gestartet, um dies zu unterstützen, Kinder haben ihr ganzes Taschengeld gegeben: eine Emphatiewelle, die ihresgleichen sucht.

Der Klimawandel schreitet voran und erhitzt die Gemüter. Aber immer mehr Menschen, abseits des großen Geschreis, versuchen, dass Ihre beizutragen: manche, die mit dem 9 Euro-Ticket den ÖPNV ausprobiert haben, fahren trotz der höheren Kosten weiter öffentlich zur Arbeit. Andere versuchen, sich von Gas und anderen fossilen Energieträgern möglichst unabhängig zu machen. Wieder andere schränken ihren Fleischkonsum drastisch ein und steigen überwiegend oder gleich ganz auf ein vegetarisches oder veganes Leben um. Sie haben festgestellt, dass man auch bei einer Temperatur von 19 oder 20 Grad in Wohnung und/oder Büro nicht erfriert. Beim Einkaufen achten sie auf Lieferketten, Nachhaltigkeit und Transportwege. Auch da kann man positive Ansätze erkennen.

Für mich persönlich gab es eine Menge Gutes in diesem Jahr, wenn ich genau hinschaue: Das Jahr begann am Meer – ein Traum ging für mich in Erfüllung. Zwar gibt mir die Kirche immer weniger Grund, zu bleiben oder gar in ihr aktiv zu sein, dennoch habe ich nun gefunden, wie mein Weg mit dieser Kirche weitergehen kann: Als Kirchenrechtlerin, als Anwältin innerhalb der Kirche im Arbeitsrecht und vor allem an der Seite der Missbrauchsopfer – deshalb habe ich entschieden, ab dem Wintersemester 2023/24 nach Münster zu wechseln, um dort die notwendige Qualifikation zu erhalten.

Auch in unserer Familie gab es einige wunderschöne Ereignisse und Feste. Wir hatten schöne Ausflüge und Urlaube, wenn auch einmal coronaeingeschränkt. Wir haben wieder entdecken dürfen, wie schön die Welt ist und wie kostbar das Leben. Es gab wundervolle Begegnungen mit alten Bekannten und Freunden, und es gab neue Bekanntschaften: die letzten drei Tage waren gefüllt damit, dass die Gastmutter unserer Jüngsten, bei der sie vor 11 Jahren gewohnt hat, zu Besuch kam: es war sehr bereichernd.

Ja, klar, es war und ist auch bei uns nicht alles gut. Aber ich glaube, es ist wichtig, anders hinzugucken: wenn ich mich verliere in dem, was schiefläuft, dann sehe ich das andere nicht mehr, das Schöne. Wenn ich über die Dunkelheit der Nacht weine, vergesse ich, dass die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Und irgendwann gebe ich auf. Blicke ich dagegen auf das, was gut ist, auf die Begegnungen, auf die kleinen schönen Dinge, sehe ich auf die Menschen, die helfen statt auf die, die hetzen: dann ändert sich mein Blickwinkel, und das ermöglicht mir, statt zu erstarren lebendig zu sein, Hoffnung zu schöpfen und aus der Hoffnung heraus zu leben. Das Meine zu tun, damit auch andere Hoffnung schöpfen können, dazu beizutragen, dass auch andere leben können.

Das heißt nicht, die Augen vor dem Übel der Welt zu verschließen. Im Gegenteil. Es geht darum, zu sehen, dass sich leben lohnt – und sich dafür einzusetzen, dass es weitergehen kann. Wer weiß? Wenn wir das ausstrahlen, werden wir mehr und, möglicherweise, wie bei dem Weihnachtswunder des WDR werden wir tatsächlich Teil eines Wunders.

In diesem Sinne wünsche ich all meinen Leser*innen ein lebenswertes neues Jahr!

St. Martin und das Teilen

Heute (und in den letzten und den kommenden Tagen) ziehen wieder Martinszüge durch das Rheinland. Sie werden von vielen instrumentalisiert: Die armen Kinder, die das nicht durften wegen Corona, die blöden „Woken“, die daraus einen Lichterzug machen wollen, die dummen Christen, die hier ihre Heiligenverehrung auf alle aufdrücken wollen etc. pp (alles Kommentare und Beiträge, die ich in den letzten Tagen gelesen habe).
Fällt irgendwo ein Zug aus, weil sich niemand findet, ihn zu organisieren, schimpfen alle darüber, dass man den Kinder Traditionen wegnimmt (sich selber entsprechend zu engagieren scheint aber keine Option zu sein) und schiebt auch das auf die „Umvolkung“, die unsere Regierung vornimmt.
Ach, und dann gibt es tatsächlich auch Eltern, die es eine Zumutung finden, dass ihre Kinder da mitgehen müssen, Leute, die auf Tüten geiern und sich nachher über den Inhalt beschweren, aber dankend abwinken, wenn Sammler gesucht werden – ich könnte die Liste endlos fortsetzen.
Worum aber geht es wirklich? Es geht ums Teilen. Die (legendäre) Begegnung des Heiligen Martin von Tour, der ja geschichtlich verbirgt ist, mit dem frierenden Bettler zeigt vor allem eins: dem Soldaten wurde plötzlich klar, dass es Menschen gibt, denen es schlechter geht als ihm, und spontan gab er ihm den halben Mantel ab – wohl wissend, dass er selbst jetzt nur noch den halben Kälteschutz hatte, der aber ausreichen würde, nicht zu erfrieren. Und genau darum geht es: ums Teilen, auch dann, wenn es wehtut – nur deshalb, weil der oder die andere deutlich schlechter dran ist als man selbst.
Nun können wir (und viele tun es auch) z.B. unsere Schränke durchforsten, schauen, was man vielleicht nicht wirklich braucht oder mehrfach vorhanden ist, und es über Kleiderkammern weitergeben. Im Kindergarten unserer Kinder stand immer zu St. Martin eine Kiste der Rumänienhilfe der Feuerwehr als Spielzeugsammlung: da kam dann auch schon mal das Lieblingsstofftier rein, weil die Kinder begriffen haben, worum es geht. Süßigkeiten wurden gesammelt für Kinder- und Flüchtlingsheime – auch da überlegten die Kinder bereits, nicht das reinzutun, was sie eh nicht mochten, sondern das, was sie lecker fanden: die Kinder, die das bekamen, sollten schließlich was Leckeres bekommen. So lernten die Kinder schon früh, worauf es beim Teilen ankommt.
Heute meckern viele darüber, dass Hilfsgelder per Gießkannenprinzip ausgegeben werden. Wer der Meinung ist, er hat seine Entlastung nicht unbedingt nötig, könnte darüber nachdenken, ob jemand anderes es vielleicht eher braucht. Tafeln und andere caritative Einrichtungen haben besondere Fonds eingerichtet: man kann sein Energiegeld spenden, damit andere sich das Heizen noch leisten können.
So gibt es der Möglichkeiten viele. Und wenn wir uns in diesen Tagen an den Martinszügen erfreuen, sollte das in unserem Kopf mitgehen: Soziale Kälte lässt sich überwinden, wenn jeder, der was hat, davon abgibt an die, die nichts haben. Vielleicht führt das auch zu mehr Frieden in unserer Gesellschaft. Dann, genau dann, hat St. Martin seinen Sinn nicht verloren, dann ist es nicht nur ein schöner Lichterzug, sondern eine Botschaft des Teilens.

Tag der Deutschen Einheit 2022, Nachtrag

Aus einem Gespräch mit einem lieben Freund, der in Ostdeutschland lebt, weiß ich, dass mein gestriger Post leicht falsch verstanden werden kann und möchte dazu Stellung nehmen:

Es ging mir um die Frage, warum wir immer noch einteilen in West und Ost, was schiefgelaufen ist in den letzten 32 Jahren und darum, warum wir eine andere Sicht auf die Dinge bekommen sollten, nämlich das Positive betonen und nicht das Negative.

Sachliche Fehler waren drin: der Soli der Gemeinden war der Solidarpackt I und II, in dem zwischen 2004 und 2019 156 Milliarden für die Ostländer aufgewendet wurden: dieser ist 2019 ausgelaufen.

Mein „Gießkannenprinzip“ kann falsch verstanden werden: das Geld war nicht zweckbestimmt und wurde deshalb nicht immer so verwendet, wie es eigentlich hätte gedacht sein sollen, etwa 27 % blieben zwischen 1995 und 2021 in Westdeutschland. Aber eben auch im Osten wurde an manchen Stellen Geld ausgegeben für unsinnige Projekte: Kläranlagen, völlig überdimensioniert, die bis heute nicht in Funktion sind, Gewerbegebiete mit kompletter Infrastruktur, die nie gebraucht wurden: das meine ich mit modernen Lostplaces.

Meine Intention war: darauf hinzuweisen, dass viel falsch gemacht wurde von Seiten der Politik. Und dass das nun gerade eben nicht, wie geplant, die Einheit befördert hat, sondern eher gehindert.

Dazu stehe ich. Und dazu, dass wir uns allzu leicht einteilen lassen in West und Ost. Dass wir wahrnehmen müssen, dass die Ostdeutschen gar nicht so wie wir Westdeutschen werden können, weil es ja auch „die Westdeutschen“ gar nicht gibt. Ich bleibe dabei: wir sind ein Vielvölkerstaat. Die Bayern sind keine Rheinländer, die Sachsen keine Westfalen und wahrscheinlich tickt ein Mensch von der Ostsee anders als jemand aus dem tiefsten Thüringen. Wenn uns das klar ist, und wir da hinschauen, wo es gut läuft (mein Hinweis auf die Leag sollte eine Hilfe dazu sein), dann hören vielleicht die gegenseitigen Vorwürfe und Vorurteile auf. Und dann kann das was werden mit der Einheit.

Wir sind alle Deutsche. Egal wo wir wohnen, egal wo in Deutschland unsere Wurzeln liegen. Das ist es, was uns eint. Ansonsten sind wir alle verschieden, und dass macht es interessant und lebenswert.

Tag der Deutschen Einheit Nr. 32

Heute ist Tag der Deutschen Einheit. Wieder wird in offiziellen Veranstaltungen die Einheit beschworen. Eine Einheit, die sehr zwiespältig ist. Sicher haben die Bürgerinnen und Bürger sich damals mit großer Mehrheit dazu entschieden, sich der Bundesrepublik anzuschließen: wie mir sächsische Freunde erzählt haben, ging es da um Themen wie DM und Maiglöckchenseife und man glaubte an das gelobte Land Bundesrepublik, dass es so sicher nie gegeben hat: Aber im Westen gab es Reisefreiheit, echte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und keine Bespitzelung durch Nachbarn und die eigenen Freundinnen und Freunde, es gab alles, wirklich alles zu kaufen (dass auch im Westen das Geld nicht auf der Straße lag, nun, das war vom Osten her wohl nicht so deutlich zu erkennen).

Die Politik hat dann versucht, eine Einheit zu schaffen: Westdeutsche Städte und Arbeitnehmer mussten (und müssen teilweise noch) einen Solidaritätszuschlag Aufbau Ost zahlen, zunächst befristet, dann immer wieder verlängert, der aber nicht immer sinnfüllend ausgegeben wurde und eher so im Gießkannenprinzip verteilt: das Geld fehlte im Westen und wurde im Osten teilweise für Projekte angelegt, die mehr oder weniger überflüssig waren. Im Ruhrgebiet fielen in Schulen Fenster aus dem Rahmen, im Osten gab es supersanierte Orte und daneben eine Menge Lost Places, letztere durchaus auch Soli-finanziert.

Gehälter und Renten sind bis heute nicht angeglichen. In der Lausitz wird Braunkohle abgebaut ohne Rücksicht auf Verluste – nun, da kommen wir der Einheit schon näher, im Rheinischen Braunkohlegebiet sieht es nicht viel besser aus. Alles in allem waren jedenfalls die staatlichen Bemühungen, eine Einheit zu schaffen, manchmal eher kontraproduktiv und sind es bis heute.

Auch nach 30 Jahren ist eine Einheit nicht wirklich erkennbar, manchmal glaubt man, es driftet alles eher wieder auseinander, gerade jetzt, wo der frühere „große väterliche Bruder“ Russland die Ukraine überfallen hat. Die Zustimmung zu Sanktionen der Bundesregierung und der EU ist im Westen Deutschlands deutlich höher als im Osten, und auch auf anderen politischen Gebieten gibt es Unterschiede. 20 – 30 % der Ostdeutschen geben an, die AfD wählen zu wollen, eine Partei, die klar faschistische Züge zeigt, rassistisch ist und den Klimawandel leugnet und vollstes Verständnis für Russlands „Militäroperation“ hat und die Sanktionen als „weiteren Versuch“ ansieht, die deutsche Bevölkerung zu eliminieren. Gleichzeitig kündigt ausgerechnet der ostdeutsche Braunkohleverstromer Leag an, in Zukunft ohne Braunkohle doppelt so viel Energie zu liefern, während das RWE in Nordrhein-Westfalen an der Braunkohle festhält.

Deutsche Einheit: ein schwieriges Thema von Anfang an und bis heute. Aber was für eine Einheit erwarten wir denn eigentlich? Gibt es die Einheit im Westen? Was haben NRW und Bayern wirklich gemeinsam? Vielleicht müssen wir die Einheit anders denken. Entgegen der Ansicht vieler eher rechts der Mitte angesiedelter Menschen gibt und gab es eine innere deutsche Einheit nie. Wir sind von Haus aus ein Vielvölkerstaat. Einen Einheitsbrei daraus zu machen mit gleichen Traditionen und „Werten“ wird uns nicht gelingen. Vielleicht sollten wir endlich aufhören, in Ost-West-Kategorien zu denken. Wenn 25 % Sachsen die AfD wählen, dann wählen 75 % nicht die AfD, dann sind es nicht „die Sachsen“. Wir sollten das positive ansehen, dass es überall gibt, und das betonen, belobigen, fördern. Vielleicht ergibt sich dann eine Einheit in Vielfalt unter einem gemeinsamen Dach.